„What – If“: Szenarien und Prognosen in einer nach-probabilistischen Welt
Die Forschungsgruppe Figurationen von Unsicherheit lädt ein, am 24. und 25. Oktober 2024 in Frankfurt über die gesellschaftliche (Re-)Produktion ungewisser Zukünfte mittels Prognosen und Szenarien zu diskutieren.
Mittels Prognosen und Szenarien beobachten Gesellschaften die Bedingungen ihrer Reproduktion in einer ungewissen Zukunft. Sie sind als Ausdruck einer spezifischen kulturellen Zeitform zu lesen, in der als möglich erachtete Ereignisse in der Zukunft gegenwärtige Handlungen und Entscheidungen in starkem Maße mitbestimmen, so z.B. Leanza (2017). Damit sind sie das zentrale Spielfeld eines Denkstils, in dem die Kontrolle über eine herzustellende bzw. zu verhindernde Zukunft in einer Weise präsent wird, dass die Gegenwart vor allem als Schauplatz der Auseinandersetzung mit zukünftigen Möglichkeiten erscheint. Das ist kritisch als Dominanz spezifischer ‚Dispositive der Vorbeugung‘ interpretiert worden, welche historische Brüche in der kulturellen Gestimmtheit, der Einwirkung auf gesellschaftliche Zukünfte und auf sich selbst markierten (Bröckling 2012). Präventivszenarien widmen sich auch und gerade solchen Möglichkeiten, die am Rande der Vorstellungskraft und damit jenseits des Kalkulierbaren ihren Raum haben.
Hier gewinnen latente, kulturell unbewusste Vorstellungen der Apokalypse ihre zeitgemäße Form. Dass die Zukunft jedoch nicht in einer großen Katastrophe enden müsse, sondern dass das fortschrittliche ‚Immer weiter so‘ der kapitalistischen Moderne selbst die desaströse Gegenwart der Katastrophe markiere, das formulierte früh Walter Benjamin (1991). Dementsprechend ist der Prognosevorrat zeitgenössischer Gesellschaften durchaus gespalten, Präventions- und (Schumpeterianische) Innovationszukunft liegen im Widerstreit. Während mittels Innovationsmanagement, Wahl- und Umsatzprognostik, derivativer Instrumente an den Finanzmärkten und politischer Technikfolgenabschätzungen keineswegs die ‚Zukunft verhindert‘ (Bühler/Willer 2016), sondern dieselbe gestaltet bzw. performativ hervorgebracht werden soll, entwerfen europäische Programme wie FESTOS (Foresight of Evolving Security Threats Posed by Emerging Technologies) katastrophale Bedrohungsszenarien durch Bio- und Nanotechnologie, Robotik und die Manipulation des menschlichen Erbguts. Prognosen und Szenarien bewegen sich also in einem Spannungsfeld von Prävention, Disruption und Normalisierung, welches sie mit hervorbringen.
Erst seit der frühen Moderne avanciert die Prognose zu der paradigmatischen Wissenstechnologie, mittels derer der Zukunft eine Gestalt abgerungen werden soll (vgl. Koselleck 1979). Sie ersetzt die Fiktionalität des antiken Orakels und der mittelalterlichen Prophezeiung durch hochgradig ‚rationale‘ Kulturtechniken: Zahlen und Statistiken, Modelle, Korrelationen und Theorien. Damit geht auch ein radikaler Austausch des für die Zukunft zuständigen gesellschaftlichen Personals einher: vom göttlich inspirierten Seher zum civilian defence strategist vom Schlage eines Herman Kahns, von der Höhle des Eremiten zu Think Tanks wie der Rand Corporation und den datenhungrigen Serverfarmen der Neuzeit. Sobald Prognosen Diskontinuitäten, Brüche und Störungen, also Phänomene des Nicht-Wissens und des Unwahrscheinlichen zu berücksichtigen suchen, münden sie in das Konzept des Szenarios. Szenarien antworten auf die gesteigerte Komplexität und Unkalkulierbarkeit spätmoderner Figurationen von Unsicherheit, indem sie das kalkulative Rüstzeug, auf dem die technische und kulturelle Legitimität der Prognose beruht, zumindest teilweise suspendieren. Eine wichtige Sparte gegenwärtiger Szenarien versucht, nicht prognostizierbare Extremereignisse mit fatalen Konsequenzen zu berücksichtigen, Katastrophen bzw. ‚Schwarze Schwäne‘ in der Terminologie von Nassim Nicholas Taleb (2008). Szenarien öffnen sich dem Unwahrscheinlichen und Nicht-Prognostizierbaren dabei vor allem auch mittels fiktionaler Techniken. Sie stehen nur mehr mit einem Bein innerhalb des Empire of Chance (Gigerenzer et al. 1989) und verlängern die probabilistische Weltdeutung in eine potentiell nach-probabilistische Welt. Dabei bewegen sie sich im Modus des Konjunktivs (‚was wäre wenn‘) und versuchen aus dem Vergleich des (Un-)Wahrscheinlichen Wissen über das Mögliche zu gewinnen. Dass sie sich dabei fiktionaler Erzählungen bedienen, macht sie über ihre kulturelle und politische Bedeutung hinaus zu einem lohnenswerten interdisziplinären Untersuchungsgegenstand. Denn in Szenarien gehen Zahlen und Fiktionen eine unwahrscheinliche und widersprüchliche Verbindung ein. Wenn Fiktionen durch eine „willentliche Aussetzung des Zweifels“ gekennzeichnet sind (so Beckert (2011: 6) unter Rückgriff auf den englischen Dichter Samuel Taylor Coleridge), dann versuchen Szenarien seit Herman Kahn und der Rand Corporation durch den gleichzeitigen Verweis auf Zahlen und Fiktionen zu überzeugen; Das Szenario als ein zentraler Baustein der Wissenskultur der Gegenwart ist also selbst eine in sich brüchige Form der Präsentation von (Zukunfts-)Wissen.
Die Tagung will diese vielfältigen Aspekte von verschiedenen disziplinären Standpunkten aus erörtern, beispielsweise in Hinblick auf:
- die Praxis des Prognostizierens, d.h. die Formen und der Gebrauch dieser Kulturtechniken in Literatur und Technik, in Ökonomie und Politik, in den Medien und im Alltag,
- die technokulturelle Vielfalt heutiger Szenarien und Prognosen,
- ihre historische Genese, ihr Verhältnis zu Orakel und Prophetie, ihre möglichen Zukünfte,
- ihre spezifische Wissensform zwischen Kalkulationen und Fiktionen, ihr soziotechnisches Instrumentarium (Computersimulationen, Large Language Models, Künstliche Intelligenz usw.)
- ihre medialen Präsentationsformen in verschiedenen Formaten des Narrativen und des Vor-Augen-Stellens (Literatur, Dokumentation, Spielfilm usw.)
- ihre epistemischen Wurzeln zwischen Kybernetik, Informatik, System- und Konflikttheorie, Spieltheorie und Simulation,
die Entstehung neuer Professionen des Vor-Sehens: vom Propheten über den civilian defence intellectual bis zum data scientist.
Bitte senden Sie Ihre Abstracts (300-500 Wörter) und kurze forschungsbiographische Angaben bis zum 30.04.2024 an die Koordination der Forschungsgruppe, Dr. Eryk Noji: eryk.noji@fernuni-hagen.de
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