Um das Faktische ranken sich in jüngster Zeit neue Varianten. Die Rede von Arte-Fakten ist schon länger etabliert, die Rede vom Post-Faktischen ist hingegen jüngeren Datums. Dabei wird der Raum jenseits des Faktischen mit unterschiedlichen Kennzeichnungen und Motiven ausgeleuchtet. Ganz prominent etwa das Vorbringen von „Alternativen Fakten“, um – zumeist politisch motiviert – andere Deutungsmöglichkeiten dessen, was ist, Beachtung zu verschaffen und zu plausibilisieren. Hier wird der Blick auf die Arten und Weisen der Tatsachenfeststellung gelenkt und über die Rechtfertigbarkeit verschiedener Formen des Feststellens von Fakten debattiert. Von einer anderen Seite kommend, aber ebenso relevant, sind Debatten um das „Ende der Theorie“. Im Angesicht umfassender Datenverfügbarkeit wird vielfach proklamiert, dass Theorie nicht mehr erforderlich sei, denn man könne die Wirklichkeit direkt aus den Daten selbst extrahieren. Diese Lesart gewinnt ihre Plausibilität aus der schieren Verfügbarkeit von Daten. Beiden Fällen gemein ist jedoch, dass die Verfahren zur Feststellung des Faktischen verstärkt experimentelle Züge annehmen. Denn wie genau die Fakten hergestellt werden, bleibt nicht selten unklar. Probierendes, exploratives, reflexives und vorläufiges Feststellen des Faktischen kennzeichnen eine zunehmend experimentelle Konstruktion sozialer Wirklichkeiten, bei der zusätzlich unterschiedliche Formen des Experimentierens ausprobiert werden: Vom Aufbau differenzierter Testverfahren über situative Experimentalanordnungen bis hin zu künstlerischen Formen. Im Rahmen der Tagung wollen wir zwei miteinander verschränkten Dynamiken der Experimentalisierung des Faktischen nachgehen.
Zum einen der Digitalisierung und Verdatung, welche dazu führen, dass gesellschaftliche Wirklichkeiten zunehmend durch digitale Informationsinfrastrukturen vermittelt und transformiert werden. Das Faktische ist somit nicht unmittelbar gegeben, sondern grundsätzlich technisch erzeugt. Es fällt hierbei auf, dass im Zuge von Digitalisierung und Verdatung wesentliche Komponenten der Erkenntnis von Wirklichkeit durch Wissenschaft praktisch relativiert werden, etwa die Bedeutung von Theorie. Bekannt ist auch, dass etwa in der Klimaforschung nicht gemessene Daten, sondern simulierte Daten die Grundlage für eine empirische Bestätigung von Aussagen bilden. Eine neue Qualität erhält diese Situation in der Gegenwart durch den Einsatz von KI, durch den neue Mensch-Technik Verhältnisse in der Produktion von Evidenz und Erkenntnis entstehen. Insbesondere wird die Stellung des Menschen als Subjekt von Erkenntnis in einem bisher nicht gekannten Maßstab relativiert.
Zum anderen den Medialisierungsprozessen, die oftmals gebündelt unter dem Stichwort Social Media verhandelt werden und die die Formen medialer Wirklichkeitskonstruktion verändern. Obgleich man mit Luhmann argumentieren kann, dass wir ohnehin Wissen nur über die Massenmedien wüssten, so erscheint mit der rezenten Medialisierungswelle eine neue Qualität Einzug zu halten, die sich am Wegfallen von Gatekeepern, der Unmittelbarkeit von Ereignis und Bericht, praktisch instantanen Beachtungsmessungen sowie mehr oder weniger skalenfreien Vernetzungen von Inhalten festmachen lässt. Das wirkt sich nicht nur in der politischen Kommunikation aus, die stärker polarisiert wird und zugleich ihre Formen verändert, sondern ebenso in der Wissenschaft, etwa mit dem Einzug von Altmetrics-Verfahren.
Auch die Wissenschafts- und Technikforschung selbst bleibt jedenfalls nicht unberührt von diesen Bewegungen rund um das Experimentieren mit neuen Repertoires zur Herstellung der Wirklichkeit. Während innerhalb der verschiendenen beteiligten Disziplinen eine Reihe an Initiativen beobachtet werden können, die zum Experimentieren ermutigen, gibt es auch Forderungen zum Rückbezug auf die Re-installation des Vertrauens in wissenschaftliche Expertise mit ihren eingeübten Methoden der Herstellung von Faktizität.
Vor diesem Hintergrund widmet sich die diesjährige Tagung der GWTF dem Problem, welche Formen der experimentellen Konstruktion von Wirklichkeit sich mit Blick auf die genannten Verschiebungen des Faktischen zeigen und welche Treiber für deren Form und Dynamik beobachtet werden können.
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