Seit bei Tönnies von der „warmen“ Gemeinschaft und der „kalten“ Gesellschaft die Rede war, bedient sich die Soziologie gerne polarer thermischer Metaphern, um das Soziale zu beschreiben – sie hat aber keine Theorie des Thermischen selbst entwickelt. Über Wärme und Kälte als Metaphern hinaus geht diese Ad-hoc-Gruppe deshalb der Frage nach, auf welche Weisen Gesellschaft durch die Materialität thermischer Beziehungen – durch Praktiken der Hitze und Kälte – geprägt ist. Gerade im Zuge ökologischer Krisen, in deren Verlauf es zu Klimaerwärmung, Extremwetter und steigenden Temperaturen kommt, gewinnt das Thermische neue Brisanz. Diese Krisen sind nicht zuletzt Resultat einer fossilen Moderne: eine Moderne, die von exzessiven Verbrennungspraktiken lebt, dies aber in der kontrollierten Gestalt ständig verfügbarer Energie unsichtbar macht.
Die Klimakrise ruft denn auch nach neuen Techniken der Temperaturkontrolle, sei es durch Klimaanlagen, tragbare Thermostate und den wachsenden Bedarf an Infrastrukturen der Kühlung und des Einfrierens von Lebensmitteln, Daten und Zellen. Die Verfügbarkeit solcher thermischer Technologien ist allerdings hochgradig ungleich verteilt: Während sich wohlhabende Gesellschaften in Kapseln des thermischen Komforts retten können – unter großem Energieaufwand, der die Krisendynamik buchstäblich weiter befeuert – sind ohnehin marginalisierte Gruppen Kälte und Hitze ungeschützt ausgeliefert. Anders formuliert: Die thermische Polarisierung geht mit globalen sozialen Polarisierungen einher.
Nachdem das Thermische lange Zeit als soziologischer Gegenstand wenig Beachtung gefunden hat, gibt es in jüngster Zeit zunehmend Versuche, es medien-, kultur- und sozialwissenschaftlich zu erschließen. So hat Nicole Starosielski (2021) aus der Perspektive der Medienwissenschaften ein Programm der „critical temperature studies“ ausgearbeitet, in dem sie Kälte und Hitze in alten und neuen Medien vom Thermostat über Telekommunikationsmedien bis zu digitalen Medien als Modi der Kommunikation untersucht. Am Beispiel von New York City hat Scott W. Schwartz (2021) eine „Archaeology of Temperature“ entwickelt, in der er die Regulierung und Kontrolle öffentlicher Temperaturen mit der historischen Konstruktion von Temperatur als quantifizierender, d.h. numerischer Größe zusammendenkt. Vorwiegend sozialtheoretisch werden thermische Figuren des Feuers, der Maschine und der Gärung bei Beregow (2021) erschlossen. Zusätzlich liegt eine ganze Fülle an empirischem Wissen über das Thermische vor: von Praktiken der Kryokonservierung (Lemke 2019) über den biopolitischen Einsatz von Infrarotkameras (Capeola Gil 2000) bis hin zum sinnlich-körperlichen Erleben von Temperatur (Allen-Collinson & Hockey 2018) und die Transformation von Geschlechterverhältnissen durch Kühlschrank und Mikrowelle (Shove & Southerton 2000).
In dieser Ad-Hoc-Gruppe möchten wir ausgehend von thermischen Praktiken der Kühlung und Erhitzung danach fragen, mit welchen soziologischen Analysemitteln wir uns dem Thermischen programmatisch nähern können. Mögliche Dimensionen der Auseinandersetzung mit dem Thermischen sind u.a.:
1) Natur und Kultur: Auf welche Weise werden Natur und Kultur durch Praktiken des Erhitzens, Kühlens und Einfrierens relationiert, hybridisiert und verhandelt? Was bedeutet es zum Beispiel für ‚natürliche‘ Prozesse des Gebärens, Alterns und des Sterbens, wenn vitale Prozesse durch Kryokonservierung verlängert werden kann? Wie verändert die allgegenwärtige Modulierung von Temperatur durch Klimaanlagen und Heizpilze unsere Beziehung zu Hitze und Kälte?
2) Thermopolitiken: Inwiefern werden thermische Prozesse durch Praktiken der Regulation, Kontrolle und (Bio-)Macht begleitet und wie unterscheiden diese sich von sonstigen Steuerungsprozessen? Wer oder was sind die mehr-als-menschlichen Akteure thermischen Handelns, wie treten diese in Beziehung und welche Macht-, aber auch Widerstandspraktiken werden dabei sichtbar?
3) Temporalitäten und Räume: An welche zeitlichen Register sind thermische Prozesse gebunden, wie werden durch Hitze und Kälte etwa Beschleunigung, Verlangsamung und Speicherung organisiert? Inwiefern erfordern Temperaturen weitere Infrastrukturen, Dinge und Technologien, um ein bestimmtes temporales Gefüge herzustellen, z.B. in Laboren und Lagerräumen, aber auch in öffentlichen Räumen?
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