Dies ist ein Call for Papers der Sektion Technik- und Wissenschaftssoziologie der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie für den ÖGS-Kongress zum Thema „Alles im Wandel? Dynamiken und Kontinuitäten gegenwärtiger Gesellschaften” in Salzburg, 26.-28. September 2019.
Präsentationsvorschläge bitte bis spätestens 31. März 2019 im Umfang von max. 400 Wörtern/3.000 Zeichen an die beiden Organisatoren Alexander Bogner (Alexander.Bogner@uibk.ac.at) und Christoph Musik (christoph.musik@fhstp.ac.at).
„Digitalisierung und die Zukunft der Demokratie”
Noch bis vor kurzem galt die Digitalisierung als Motor der Demokratisierung (Jenkins 2006, Dahlberg 2011). Obamas Wahlsieg 2012 und der arabische Frühling schienen zu belegen, dass die Mobilisierungswirkung der sozialen Medien autoritäre Regime destabilisiert und positive demokratische Entwicklungen fördert. Jedoch: Mit dem Aufstieg populistischer Strömungen und spätestens seit dem Wahlsieg von Trump und dem Brexit Votum ist Ernüchterung eingekehrt. Es scheint nunmehr ausgemacht, dass den Erosionsprozess der Demokratie nichts so stark beschleunigt wie die Digitalisierung.
Das „Wall Street Journal” und „The Guardian” berichten, dass der Empfehlungsalgorithmus von Youtube den Zuschauer tendenziell zu extremistischen Inhalten lotst, weil immer grellere Versionen jener Inhalte empfohlen werden, die im Augenblick konsumiert werden. Dies könnte mit einer spezifischen Ranking-Kultur in Verbindung gebracht werden, die auch die YouTube-nativen Inhalte von YouTube Stars jenseits der traditionellen Medienunternehmen bevorzugen (Rieder, Matamoros-Fernández & Coromina 2018). Weitere beunruhigende Befunde lauten: Die demokratische Erwägungskultur ist durch zersplitterte und in sich geschlossene Teilöffentlichkeiten („Filterblasen” bzw. „Echokammern”) bedroht; eine durch den Schutz der Anonymität zunehmend enthemmte Hasskommunikation (Klein 2017) fördert die Polarisierung der Gesellschaft; die ungefilterte Verbreitung gezielter Falschinformationen im Netz spielt dem Populismus in die Karten; Wahlkampfmanipulation durch Microtargeting und Datenmissbrauch im großen Stil (Stichwort Facebook-Cambridge Analytica) bedrohen die Demokratie.
Politolog/innen warnen deshalb davor, dass die Demokratie zerfallen könnte, und zwar ohne großen Knall und sichtbaren Umsturz, sondern lautlos und bei laufendem Normalbetrieb. Expert/innen aus der Technikfolgenabschätzung weisen darauf hin, dass „smarte” Technologien mit unserem Anspruch auf Privatsphäre in Konflikt geraten können. Zukunftsforscher/innen rätseln darüber, ob sich der Mensch im Zeitalter künstlicher Intelligenz überhaupt noch als autonomer oder wenigstens maßgeblicher Akteur verstehen kann.
Das Spannungsverhältnis zwischen Technik und Demokratie war seit jeher ein zentrales Thema innerhalb der Techniksoziologie (u.a. Winner 1980). In unserer Sektionsveranstaltung wollen wir auf Basis theoretischer und empirischer Arbeiten die Basisfrage diskutieren, ob die Digitalisierung bzw. welche konkreten Ausformungen dieser den Geist der Demokratie bedrohen.
In diesem Zusammenhang geht es um Fragen wie zum Beispiel:
- In welcher Hinsicht und auf welchen Ebenen geraten Demokratie und Digitalisierung in ein Spannungsverhältnis?
- Welche Probleme und Folgen ergeben sich aus dem Umstand, dass die sozialen Medien zu politischen Leitmedien geworden sind? Welche Herausforderungen für demokratische Governance ergeben sich durch Konzentrations- und Zentralisationsprozesse, die durch Big Data und Künstliche Intelligenz angestoßen werden?
- Welche Rolle spielen soziale Medien für die Entwicklung und (De-)Stabilisierung sozialer Bewegungen und Protestgruppen? Welche Chancen bietet die Digitalisierung für neue Formen partizipativer Demokratie und beratender Beteiligung? Welche Design-Varianten und Akteurs-Konstellationen von Netzwerkplattformen sind kompatibel mit diesen Bestrebungen? Welche nicht?
- Wie reagiert die Politik auf den Diskurs um Chancen und Risiken der Digitalisierung in Bezug auf die Demokratie? Welche Rolle spielen Expertenkommissionen und Beteiligungsverfahren für die politische Gestaltung des digitalen Wandels?
- Welche gesellschaftlichen Gruppen profitieren von der Digitalisierung bezüglich ihrer politischen Teilhabe? Welche Gruppen werden im Sinne der „digitalen Spaltung” erster bzw. zweiter Ordnung benachteiligt? Durch welche Mechanismen und Praktiken entstehen diese Ungleichheiten?