Call for Papers für das ZQF-Schwerpunktheft 2025/1 und die Arbeitstagung „Situationsanalyse: Zu Aktualität und Verwendungsweisen eines Forschungsprogramms“ am 17.November 2023 in Tübingen
Herausgeberinnen:
Tamara Schwertel
Renate Baumgartner
Ursula Offenberger
Der Call für die Arbeitstagung und das geplante Schwerpunktheft stellt die Situationsanalyse von Adele Clarke, Carrie Friese und Rachel Washburn (zuletzt 2022) in den Mittelpunkt und fragt nach theoretischen und methodischen Anschlussmöglichkeiten. Die Situationsanalyse folgt der sozialökologisch und relational ausgerichteten Tradition der Chicagoer Soziologie und den Prämissen des symbolischen Interaktionismus. Sie wurde im Jahr 2005 von der amerikanischen Soziologin Adele Clarke im Anschluss an die Grounded Theory von Anselm Strauss und Juliet Corbin entwickelt und fand durch die Übersetzung des Werkes (2012) Einzug in die deutschsprachige Forschungslandschaft, wo sie mit großem Interesse aufgenommen wurde (Keller 2013, 2020; Diaz-Bone 2013; Strübing 2013; Offenberger 2019). Inzwischen kommt die Situationsanalyse verstärkt auch disziplinenübergreifend zum Einsatz und erweist sich dabei als überaus anschlussfähig an eine Fülle weiterer Theoriebestände.
Die Situationsanalyse wurde als postmoderne(re) Erweiterung der Grounded Theory konzipiert, die Konzepte aus den amerikanischen Science and Technology Studies, dem französischen Poststrukturalismus und dem Symbolischen Interaktionismus und Pragmatismus miteinander verbindet. Soziale Ordnungsbildungen werden in der Verschränkung von Diskursen und Praktiken in den Blick genommen, wodurch sich die Affinität der pragmatistisch-interaktionistischen Theorietradition zu poststrukturalistischen und praxistheoretischen Ansätzen zeigt. Entsprechend wird in der Debatte inzwischen nach praxistheoretischen Inspirationen für pragmatistische Theoriebildung und nach pragmatistischen Inspirationen für praxistheoretisches Arbeiten gleichermaßen gefragt (Dietz, Nungesser & Pettenkofer 2017). Der Beitrag der Situationsanalyse liegt auch darin, dass durch die unterschiedlichen Mappingverfahren die Mesoebene sozialer Phänomene in ihrer Relationalität und Multiperspektivität empirisch beforschbar und rekonstruierbar wird. Beispielsweise lassen sich durch das Mapping der Sozialen Welten und Arenen sozialräumlich und historisch weit umspannende Themen und Fragen ebenso bearbeiten wie raumzeitlich stärker begrenzte Interaktionssituationen. Hierin besteht eine Wahlverwandtschaft zu weiteren methodischen Zugängen, mit deren Hilfe kollektives Handeln untersucht werden kann, z. B. zur Bourdieuschen Feldanalyse (Diaz-Bone 2013), zur wissenssoziologischen Diskursanalyse (Keller 2011) oder zur empirischen Subjektivierungsforschung (Bosančić 2019). Auch die Untersuchung von Materialität bildet einen wichtigen Teil von Situationsanalysen. Erste Anschlüsse an Theoriedebatten zu neuen Materialismen sind bereits bei Clarke angelegt und bieten viele Erweiterungsmöglichkeiten. Diese und weitere produktive Schnittstellen zu zeitgenössischen Theorie- und Methodenbeständen adressiert unser Call und lädt zu Beiträgen ein, in denen Wahlverwandtschaften und Affinitäten des situationsanalytischen Theorie-Methoden-Paketes mit weiteren Theorieperspektiven ausgelotet werden.
Die für die Situationsanalyse charakteristische Verbindung aus konzeptioneller Elastizität und flexiblem, an Forschungssituationen anzupassendem Methodenrepertoire macht die Situationsanalyse für unterschiedlichste qualitative Forschungen attraktiv, und entsprechend kommt sie etwa in der Gesundheits- und Medizinsoziologie, den Medienwissenschaften, der Wissenschaft- und Technikforschung, der Umwelt- oder der Migrationsforschung zum Einsatz, um nur einige Beispiele zu nennen. Gleichzeitig stellen Elastizität und Flexibilität forschungspraktische Herausforderungen dar, etwa hinsichtlich der sinnvollen und handhabbaren Eingrenzung des Forschungsgegenstandes. Deshalb sollen auf der Tagung und im Schwerpunktheft auch empirische Nützlichkeit und forschungspraktische Herausforderungen im Umgang mit der Situationsanalyse kritisch diskutiert und Lösungswege aufgezeigt werden. Mit diesen beiden – theoretisch-konzeptionellen sowie empirisch-forschungspraktischen – Orientierungen knüpft der Call an offene Baustellen situationsanalytischen Arbeitens an.
Folgende Fragen können dabei unter anderem bearbeitet werden:
• Für welche empirischen Phänomene ist eine Situationsanalyse besonders geeignet? Welchen Nutzen hat die sozialökologische Perspektive der Situationsanalyse für soziale Phänomene?
• Welche Datensorten sind für Situationsanalysen besonders nützlich, und wie können verschiedene Sorten miteinander sinnvoll kombiniert werden? Welche Rolle können etwa digitale Methoden für Situationsanalysen spielen? Wie verhalten sich bestimmte Datensorten zu den jeweiligen Kartierungsverfahren?
• Wie wird Kollektivität in der Situationsanalyse konzeptualisiert? Welche Bedeutung spielen dabei Objekte und Materialitäten (etwa konzipiert als ‚boundary objects‘, ‚boundary infrastructures‘ oder ‚assemblage‘)? Welcher Begriff von Öffentlichkeit entsteht dadurch?
• Welche Vorzüge, aber auch welche Herausforderungen, bringt das Arbeiten mit der Situationsanalyse mit sich? In welchen Verhältnissen stehen Empirie und Theorie zueinander?
• An welche theoretischen und methodologischen Bestände ist die Situationsanalyse anschlussfähig, und wo liegen sinnvolle Erweiterungen (z. B. subjektivierungstheoretische, praxistheoretische, neumaterialistische, diskursanalytische)? Wie ist die Situationsanalyse etwa im Lichte praxistheoretischer Debatten zu verstehen? Wie im Lichte posthumanistischer Ansätze?
Diese nicht erschöpfende Liste von Fragen soll zu theoretischen, empiriebasierten und methodologischen Auseinandersetzungen mit Situationsanalysen einladen. Willkommen sind Beitragsvorschläge aus verschiedenen Disziplinen, die sich mit diesen und weiteren Fragen zu Situationsanalysen befassen.
Zeitplanung/Fristen:
Frist für Themenvorschläge für Tagung und Schwerpunktheft: Abstracts für Beiträge im Umfang von 1.000 Wörtern sowie Kurz-Angaben zu den Autor*innen) können bis zum 14.05.2023 unter qualitativ@mz.uni-tuebingen.de eingereicht werden. Die Beteiligung am Schwerpunktheft schließt die Teilnahme an der Arbeitstagung ein.
Arbeitstagung: Die Tagung wird vom Arbeitsbereich Qualitative Methoden und Interpretative Sozialforschung des Methodenzentrums und dem Zentrum für Gender- und Diversitätsforschung der Universität Tübingen veranstaltet und findet am 17.11.2023 (12:45-18:30 Uhr CEST) statt. Deadline für die Work-in-Progress-Papiere ist der 15.10.2023.
Schwerpunktheft: Frist für fertige Beiträge: Bis zum 27.02.2024 können fertige Beiträge bei den Herausgeberinnen eingehen. Die Beiträge dürfen einen maximalen Umfang von 50.000 Zeichen (inkl. Titel, Abstracts, Keywords, Literatur, Endnoten und Leerzeichen) nicht überschreiten. Abbildungen sollten hochaufgelöst sein (jpg. oder .pdf; Auflösung 300 dpi). Bitte beachten Sie schon beim Erstellen die Manuskripthinweise für Autor*innen und nutzen Sie die Formatvorlage der ZQF. Das Heft 2025/1 wird im März 2025 erscheinen.
Den vollständigen Call finden Sie hier.