4. INSIST-Netzwerktagung
11. – 12. März 2021
Goethe-Universität Frankfurt am Main
Einsendeschluss für Abstracts: 31. Dezember 2020
Der Begriff ,Krise‘ hat Hochkonjunktur. Das gilt nicht erst seit der Covid-19-Pandemie, sondern auch für Debatten rund um Klimawandel und Ressourcenknappheit, die Wahrnehmung weltwirtschaftlicher Entwicklungen und nicht zuletzt für Fragen der (In-)Stabilität verschiedener politischer Systeme. Auch in den Bereichen Wissenschaft und Technologie werden gegenwärtig und wurden in der Vergangenheit, über nationale und kulturelle Grenzen hinweg, immer wieder Krisensemantiken aufgerufen. Zum einen findet dies mit Blick auf die Produktion und Anwendung von Wissen statt, das aus Krisen hervorgeht bzw. zur Lösung von als krisenhaft wahrgenommenen Zuständen in Anschlag gebracht wurde und wird. Zum anderen gerät Wissen selbst immer wieder ins Zentrum von Krisendiskursen—sei es in der als science wars betitelten Debatte der 1990er und frühen 2000er Jahre (u. a. Latour 1999, Nowotny 1999) oder in jüngsten Diskussionen rund um ,Fake News‘ unter dem Stichwort der Postfaktizität (Keyes 2004). Dass beide Aspekte des Zusammenhangs zwischen Krise und Wissen keine neuen Phänomene sind, zeigt ein Blick in die Geschichte des Krisenbegriffs und seiner Verwendung (Koselleck 2006). Zugleich lassen sich zahlreiche historische Beispiele ausmachen, welche die Doppelrolle von Wissen als handlungsleitendem Orientierungswissen in Krisenzuständen, aber auch als Auslöser und Objekt von Krisendiskursen verdeutlichen. Zu nennen sind hier u. a. sozialmedizinisches Wissen als Antwort auf bevölkerungspolitische Krisen in den sich industrialisierenden Gesellschaften des 19. Jahrhunderts oder die Indienstnahme von Wissen(schaft) durch die großen Ideologien des 20. Jahrhunderts.
Während in jüngerer Zeit der Glaube an die ,Flat Earth‘ zunimmt und das Vertrauen in Impfprogramme sinkt, erklingt zugleich erneut die Forderung ,Hört auf die (Natur-
)Wissenschaft!‘, prominent zum Beispiel in der Debatte um den menschengemachten Klimawandel im Kontext der Fridays-for-Future-Bewegung. Der Anspruch lautet, Wissenschaft solle mit ihren Einschätzungen zu ihrer vermeintlich vormaligen leitenden Funktion innerhalb der Gesellschaft zurückkehren. Gleichzeitig betonen Sozial- und Geisteswissenschaftler*innen die zeitliche, kulturelle und kontextspezifische Gebundenheit jeglicher Form der Wissensproduktion. Wahrheit ist damit das Resultat verschiedener Verflechtungen, die lokalspezifische, multiple Formen hervorbringt. Diese Multiplizität und der historische Wandel von Kriterien der Wissenschaftlichkeit gehen einher mit ihrer wachsenden Komplexität. Es folgen Unsicherheit und Nicht-Wissen beteiligter Akteure im Umgang mit wissenschaftlichem Wissen, gerade im Kontext komplexer Modellierungen. Dies zeigt sich zum Beispiel an Szenarien zur Technikfolgenabschätzung, an epidemiologischen Prognosen oder auch an Zukunftsvorhersagen im Bereich der Klimaforschung.
Eine weitere Folge ist eine ,Krise‘ der Expertise: Die Wissenschaft kämpft mit Gesellschaft und Politik um die Deutungs- und Definitionshoheit virulent gewordener Begrifflichkeiten und der sich dahinter verbergenden Konzepte. Das kann zu der von Sharon Macdonald (2012) als ,analytic double take‘ bezeichneten Situation führen. Demnach verwenden Wissenschaft und Gesellschaft zwar die gleichen Termini, legen diesen jedoch oftmals unterschiedliche Konzepte und normative Vorstellungen zugrunde. Neue methodologische Ideen der postnormal science (Funtowicz & Ravetz 1993), Transdisziplinarität oder der Stärkung von citizen science bergen das Risiko einer Wissenskrise, aber auch das Versprechen einer anderen Art von Wissenschaft. Schließlich findet zugleich wissenschaftliches Arbeiten selbst in nahezu allen Disziplinen unter zunehmend prekären, krisenhaften Bedingungen statt, weil Forschungsarbeit immer mehr einem neoliberalen Modell der unternehmerischen Hochschule unterliegt.
Die 4. INSIST-Nachwuchstagung in Frankfurt am Main möchte die komplexe Verbindung zwischen Wissenschaft und Krise vor dem Hintergrund aktueller und vergangener
Entwicklungen reflektieren. Gesucht werden Beiträge, welche dieses Anliegen aus den Perspektiven u. a. der Soziologie, Philosophie, Kulturanthropologie, der Ethnologie, der
Humangeographie und Geschichte der Wissenschaften beleuchten. Beiträge theoretisch-konzeptioneller Art sind ebenso willkommen wie empirische Fallbeispiele, die sich kritisch mit Wissen und den unterschiedlichen Bedingungen seiner Produktion auseinandersetzen. Die Beiträge können u. a. folgende Fragen in den Blick nehmen, sind aber nicht auf diese beschränkt:
I. Wissenskrisen
Wie, wann, wo und unter welchen Bedingungen gerät bzw. geriet Wissen in die Krise?
• An welchen (geographischen, medialen, sozialen und/oder metaphorischen) ,Orten‘ werden Wissenskrisen ausgetragen?
• Welche Rolle kommt den Institutionen der Wissenschaft und ihren Repräsentanten dabei zu?
• Welche Strategien zur Krisenbewältigung werden von den beteiligten Akteuren verfolgt, und welche Gründe bzw. Bedingungen führen zum Erfolg dieser Strategien?
• Welche Vorstellungen von Wissenschaftlichkeit bzw. von der Gültigkeit wissenschaftlich-technologischen Wissens wurden und werden unter krisenhaften Bedingungen diskutiert?
II. Krisenwissen
Wie, wann, wo und von wem wird unter welchen Umständen wissenschaftlich-technologisches Wissen zur (vermeintlichen) Lösung von Krisen in Anschlag gebracht?
• Welche Kriterien muss wissenschaftliches Wissen erfüllen, um als relevant zu gelten und welche Kriterien lassen Wissen in krisenhaften Situationen handlungsleitend werden?
• Wie sehen die Kontexte von sogenanntem Krisenwissen aus, und welche Austauschprozesse zwischen wissenschaftlichen, politischen und anderen Akteuren können beschrieben werden?
• Wie haben sich die Akteurs- und Bedingungskontexte, in denen Krisenwissen entsteht und seine Bedeutung(en) entfalten kann, historisch gewandelt?
• Welche historischen Phasen lassen sich identifizieren? Haben aktuelle Entwicklungen historische Vorläufer bzw. Parallelen? Lässt sich daraus etwas für die gegenwärtige Problematik lernen? Wo gibt es Brüche und Diskontinuitäten im Gebrauch von Wissen zur Lösung von Krisen?
Außerdem interessieren wir uns für Beiträge, die Überlappungen der Bereiche aufzeigen beziehungsweise erläutern, inwiefern diese auch im Konflikt zueinander stehen können. Wie wird also aus einer Krise heraus neues wissenschaftliches Wissen generiert? Oder welche wissenschaftlichen Praktiken des Umgangs mit Krisen haben Einfluss auf den sich daraus generierenden Kanon an ,Krisenwissen‘ und -praktiken?
Mehr Informationen finden Sie hier.